„Augenblick, verweile“ – das Titelthema des aktuellen Philosophie Magazins (PhiloMag 5/2016) irritiert. Angesichts der gegenwärtigen Weltlage, angesichts der sich überstürzenden Ereignisse, die anscheinend die „freie“, demokratische Welt in tiefe Depression stürzen und handlungsunfähig machen (von einigen Symbolhandlungen abgesehen), bin ich doch eher versucht zu sagen: Hoffentlich ist dieser Spuk bald vorbei. – Ein frommer, ein naiver Wunsch, freilich.
Was sollte es bedeuten, in dieser Situation sagen zu können: Augenblick, verweile? Sich ein „Dornröschenschloss“ zu erschaffen, in dem alles in Schockstarre liegt? Überwuchert und abgeschieden in „splendid isolation“, ja abgeschnitten von der Welt da draußen? Bis ein Prinz kommt und uns wieder wachküsst – uns ins „richtige Leben“ zurückholt? Das Dornröschenschloss taugt jedoch nicht als Symbol des von Epikur gepriesenen „Lebens im Verborgenen“.
Dennoch kann man sich fragen, ob ein Rückzug nicht vielleicht doch erstrebenswert erscheinen kann – und unter welchen Bedingungen dies richtig ist. Selbst Seneca – als Stoiker dem Gemeinwohl verpflichtet – schloss dies nicht aus für den Fall, dass eine Mitwirkung am Staatswesen und eine Wendung zum Besseren ausgeschlossen seien. Doch was heißt „Staat“, Gemeinwesen, res publica noch in Zeiten der anscheinend hemmungslos entfesselten Globalisierung, des grenzenlosen Marktes, des „Jeder gegen jeden“, wo Beziehungen fast nur noch als reine Zweckbündnisse bestehen, um seine eigenen Ziele besser gegen andere durchsetzen zu können. Einer Globalisierung, die sich nicht – wie wir es uns vielleicht erträumt haben – auf friedliche Beziehungen durch Handel untereinander beschränkt, sondern die nur wenige Gewinner und viele Verlierer kennt, die das Recht des (vermeintlich) Stärkeren mehr achtet als die Stärke des Rechts? Einer Globalisierung, die sich zunehmend als nicht beherrschbar und schon gar nicht gestaltbar erweist und vor der rechtsstaatliche Ordnungen mehr und mehr kapitulieren?
Könnte da „radikaler Individualismus“ helfen? Der „philosophische Klassiker“ des aktuellen PhiloMag legt dies nahe – denn er handelt diesmal von Ayn Rand, jener Hohenpriesterin des hemmungslosen Libertarismus, dem die Tea-Party-Anhänger, dem der frühere US-Notenbankchef Alan Greenspan, dem der Silicon-Valley-Investor Peter Thiel und viele andere Globalisierungsgewinner (!) huldigen, die ohnehin in einem Gemeinwesen, im Staat, in gelebter Solidarität einen Irrweg sehen und statt dessen den reinen Egoismus preisen. Zweifel sind da angebracht, und noch so viele prominente „Fürsprecher“ können mich nicht davon überzeugen, dass dies die richtige Haltung ist. Extremer Individualismus in dieser Form bedeutet einfach die Haltung des „einsamen Wolfs“. Motto: „Der Starke ist am mächtigsten allein“ (Friedrich Schiller, Wilhelm Tell). Oh nein!
In einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung (SZ online 25.7.2016) wird dagegen in Anlehnung an Epikur die Tugend der „Ataraxie“ gepriesen. Ataraxie heißt „Unerschütterlichkeit“. So, als müsste man jetzt nur einfach mal Handy und Fernseher ausschalten, die Welt um einen herum einfach ausknipsen und an den Strand oder ins Grüne zum Picknicken rausfahren – und schon wäre sie da: die Gelassenheit. Doch so gelingt das freilich nicht. Man kann nicht einfach abschalten und so tun, als ginge einen die Welt um sich herum nichts mehr an. Denn dem liegt eine Verwechslung zugrunde: Ataraxie, Unerschütterlichkeit, Gelassenheit heißt nicht Teilnahmslosigkeit. Und darüber hinaus wäre sie als „Ignoranz“ missverstanden einfach nur unvollständig, würde man nicht gleichzeitig eine andere Komponente epikureischer Ethik mit berücksichtigen: die Freundschaft. Die persönliche Verbundenheit, Zusammenstehen, Solidarität. Es ist – anders gesagt – keine Frage der Verhältnisse, sondern der persönlichen Haltung.
Am Eingang zu Epikurs Garten soll die Inschrift gestanden haben: „Tritt ein, Fremder. Ein freundlicher Gastgeber wartet Dir auf mit Brot und Wasser im Überfluss. Denn hier werden Deine Begierden nicht gereizt, sondern gestillt.“ Eine Haltung der „offenen Tür“ für den Fremden. Vertrauen, dass, wer Zuflucht sucht, auch in unsicheren Zeiten, auf nichts so sehr angewiesen ist, wie auf ein Entgegenkommen, ein freundliches Wort. Und nicht so sehr begehrt wie die „Stillung der Begierden“ – mit einfachsten Mitteln. Garten statt Markt.
Ich erinnere mich an einen jungen Jesuitenpater. Vor mehr als 30 Jahren war er – am Beginn meines Studiums – mein „geistlicher Berater“. Er hatte die Angewohnheit, bei seiner Abwesenheit seine Zimmertür sperrangelweit offen stehen zu lassen. Nicht, um seine Abwesenheit zu dokumentieren, sondern als Einladung: Ich bin zwar physisch nicht da, aber tritt ein. Warte auf mich, bis ich zurückkomme – oder ruh dich einfach nur kurz bei mir aus, fühle dich willkommen geheißen, sollte diese Geste dem Besucher bedeuten. Verbundenheit in An- und Abwesenheit. Das Gegenteil von Teilnahmslosigkeit.
Nicht wenige – auch ich – fragen nach dem „Sinn“ all dieser Geschehnisse und deuten sie im Nachhinein, indem sie vermeintliche Ursachenforschung betreiben, die nicht selten in Schuldzuweisungen münden: Ist es „die Gesellschaft“, die Menschen dazu treibt? Der Materialismus oder die Konsumgesellschaft, die Menschen zu bloßen „Verbrauchern“ degradiert? Die Ungerechtigkeit? Ist die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung richtig? Hätte man die Taten verhindern können, wenn man richtig hingeschaut hätte? Wie kann man das künftig verhindern (und doch so weitermachen wie bisher)? Alles verständlich, nicht per se falsch, und doch so unzulänglich. Denn „Sinn“ ist nicht einfach vorhanden oder fehlt als externe Komponente eines Geschehens, Sinn ist auch nicht einfach Bestandteil eines Geschehens oder Ereignisses vorhanden oder fehlt. Sinn ist ein Geschehen selbst. Etwas, das sich im Kontext, im Zusammenhalt, im Zusammenhang entwickelt und zeigt. Etwas als „sinnlos“ anzusehen bedeutet, etwas als „beziehungslos“ zu uns und anderen zu erfahren. Sinnlosigkeit ist Beziehungslosigkeit. Und umgekehrt: Sinn entsteht durch Beziehung. „Tritt ein, Fremder.“ Nimm Anteil an meinem, an unserem Leben – und lass uns teilhaben an deinem. Als Einladung ausgesprochen, ist der Rückzug aus dem hektischen Weltgeschehen die richtige Antwort. Nicht als „Dornröschenschloss“, dessen Mauer ein heroischer Retter (oder war er einfach nur neugierig, was sich hinter der Hecke verbergen möge?) zu einem bestimmten Zeitpunkt erst überwinden muss. Menschlichkeit, Beziehung hat keinen „richtigen Zeitpunkt“ (kairos) oder anders gesagt: Ihr „kairos“, ihr Augenblick ist jederzeit. So gesehen stimmt es: Augenblick, verweile …